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Qsicon Exzellent Dieser Artikel wurde am 04. Juni 2019 als Spotlight der Woche vorgestellt.
Längste Weg-Kopf

Kapitel 7

Es war mal wieder soweit, diese bestimmte Zeit zum Ende eines jeden Jahres, in der man anfing, mehr über seine Taten zu sinnieren und an die zu denken, für die man sonst in den restlichen 50 Wochen keine Zeit hatte. Haben wollte. Ein Paradebeispiel dafür lag gerade vor ihm auf dem Tisch, in Form eines geöffneten Briefumschlags. Leicht angegilbt, die Beschriftung an einigen Stellen durch Wasserflecken unleserlich verschmiert und an einer Ecke von einem unvollständigen Ring einer übervollen Teetasse verziert. Zumindest bewies das, dass der Brief trotz des Argentumsymbols auf seiner Rückseite mehr Zeit auf dem Tisch als in der Schublade verbracht hatte. Nur mit der Antwort haperte es. Mal wieder.

Um sich weiter im Prokrastinieren zu üben ging Angus zum Kamin und nutzte die kühle Abendluft als Vorwand, sich erst einmal mit dem Anzünden eines Feuers zu beschäftigen, statt mit Schreiberei. Zunächst stieg erst nur etwas Qualm auf, gefolgt von fast unsichtbaren, bläulichen Flämmchen, bis diese langsam wuchsen und einen gelben Schein bekamen. Wenige Minuten später knisterte und knackte ein lebhaftes Feuer im Kamin und er wandte sich zwangsweise wieder dem Brief zu.

Abgeschickt hatte man den Brief in Herdweiler, der ehemaligen Hochburg des Scharlachroten Kreuzzugs. Der Zufall wollte es, dass er selbst vor gar nicht langer Zeit mit einem Trupp in Herdweiler zu Gast gewesen war. Eine durchaus positive Erfahrung in Anbetracht des verbesserten Verhältnisses zwischen aktuellen und ehemaligen Statthaltern, auch wenn der Anblick von Orcs und Tauren in den silbernen Rüstungen und Wappenröcken immer wieder aufs Neue ein Schlag in die Magengrube war.

Herdweiler hatte aber noch eine ganz andere Überraschung für ihn parat. Eine Begegnung, die er seit Jahren nicht für möglich gehalten hatte.

Angus war damals noch nicht lange beim Kreuzzug gewesen. Er war nur einer von vielen Rekruten, die von morgens bis abends auf den Übungsplätzen gedrillt und zu Kreuzfahrern geformt wurden, während die erfahrenen Kämpfer ausrückten um das Land zurück zu erobern. Mit ihnen zu gehen und seinen Teil zum Kampf beizutragen stellte dabei eine weitaus größere Motivation dar, die stundenlangen Übungen zu absolvieren als es die gebrüllten Befehle ihrer Ausbilder waren. Manche der Veteranen verbrachten ihre freie Zeit bei ihren eigenen Übungen in der Nähe der Rekruten, die neugierig und auch ehrfürchtig zusahen, wozu ein echter Kreuzfahrer in der Lage war. Einer dieser Veteranen war ein Mann aus dem 12. Bataillon, der stets gut gelaunt wirkte und sich sogar öfter die Zeit nahm, den Rekruten ein paar Tricks und Kniffe zu zeigen und ihnen das Leben ein kleines bisschen besser machten.

In jenen Monaten lernte Angus zusammen mit den Anderen den Umgang mit zahlreichen Waffen. Vorlieben wurden ausgebaut, Schwächen aufgedeckt und ausgemerzt, Formationen und Taktiken wurden eingeschärft, bis sie mitten in der Nacht aus den Betten gerissen werden konnten und dennoch sofort kampfbereit waren. Er mochte den Kampf mit dem Schwert und ging meist offensiv in die Übungskämpfe. Liz, die sich zu seinem persönlichen Übungspartner erklärt hatte, genoss jeden einzelnen der Kämpfe, die ihn mit blauen Flecken übersäten und in den Dreck schickten. So sehr Angus sich auch bemühte, er schaffte es nicht ein einziges Mal, sie zu besiegen und das frustrierte ihn. Er begann den Übungsplatz früher aufzusuchen, um eine Weile allein üben zu können, bis sich eines Tages ein unerwarteter Zuschauer zu ihm gesellte. Es war der Veteran aus dem 12., der eine Weile zugesehen hatte, dann zum Waffenständer mit den Übungswaffen ging und sich einen Schild und ein kurzes Schwert raus suchte.

Mit einem Grinsen im Gesicht reichte er Angus beides. „Versuch das mal“, sagte er und nickte dabei auffordernd. Zögernd legte Angus die größere Waffe zur Seite und nahm die angebotenen. Bislang hatte er nicht gerade viel Übung im Kampf mit dem Schild, doch ehe er sich versah war er mit dem Veteranen in einem Übungskampf, der ihm zeigte, dass der Schild keineswegs so defensiv und langweilig war, wie ein junger Rekrut es womöglich dachte. Er merkte nicht einmal, dass Liz inzwischen dazu gekommen war und sie schweigend beobachtet hatte, bis der Ältere die Waffen senkte. Er tippte mit zwei Fingern an die Stirn zum knappen Salut und rief im Gehen noch über die Schulter: „Lass den Kleinen mit Schild und Schwert ran. Liegt ihm mehr.“

Zu Angus' Verwunderung tat Liz genau das. Sie ließ ihm Schild und Schwert ohne Widerworte und binnen weniger Übungskämpfe wurde klar, dass das Urteil des Veteranen korrekt gewesen war.

Als sie eine kurze Pause machten wagte Angus schließlich, Liz zu fragen, wer der Mann eigentlich ist.

„J. P. Morgan“, antwortete sie und deutete mit einem Nicken in Richtung der Baracken vom 12. Bataillon. „Ehemaliger Soldat der Lordaeroner Armee. Ist wie ein bunter Hund, den kennt hier jeder.“ Angus nickte leicht und blickte fragend gen Liz. „Er ist gut, oder?“

„Ja, Krüppel.“ Liz seufzte anhand der Dummheit einer Frage, die so offensichtlich zu beantworten war. „Einer der Besten.“

Langsam kroch die Kühle der Nacht in sein Zimmer und Angus erhob sich um ein paar neue Holzscheite im Kamin nachzulegen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis das Feuer den Nachschub ergriff und schließlich in neuen kräftigen Flammen den Raum wärmte und erhellte, während die Schatten an den Wänden einen wilden Reigen tanzten.

Damals, als Rekrut, hatte er in der Tat J. P. Morgan das erste Mal getroffen, aber wirklich kennen gelernt hatte er ihn erst ein knappes Jahr später ...

Die Zeiten waren nicht die besten. In einer kurzen Ansprache an ihr Bataillon hatte Shukov die Entscheidung des Kreuzzugs mitgeteilt, dass die gemeinsamen Einsätze von Scharlachroten und Argentumdämmerung ein Ende gefunden hätten und gegenseitige Unterstützung eingestellt werde. „Zu verschiedene Ansichten“ war die offizielle Erklärung, was durchaus der Wahrheit entsprach, denn gemäß ihrer liberalen Ansichten hatte die Argentumdämmerung alles als Waffenbrüder willkommen geheißen, was sich am Kampf gegen den Untod beteiligte, sogar Orcs und Trolle. Für die Scharlachroten, die nahezu alle in der Zeit vor der Geißel unter Überfällen der barbarischen Völker gelitten hatten, war dies ein unverzeihlicher Schlag ins Gesicht, der an Ketzerei grenzte.

Um die fehlende Mannstärke bei größeren Einsätzen auszugleichen wurden öfter Truppen verschiedener Bataillone zusammen losgeschickt. Der Zufall wollte es, dass die Trupps von Morgan und Liz zusammen gezogen wurden und Angus dadurch die Gelegenheit hatte, mit den Veteranen Seite an Seite zu kämpfen. Ihre Mission war beinahe banal. In einem nahegelegenen Dorf war es zu bestätigten Infektionen gekommen, die Infizierten sollten ausfindig gemacht und beseitigt werden.

Die Reise bis zum Dorf war recht entspannt. Die Angehörigen beider Bataillone vertrieben sich die Zeit mit Geplauder, ohne dabei die Vorsicht zu vernachlässigen. Als die Dächer des Dorfes jedoch in Sichtweite kamen verstummten sie. Einen kurzen Moment, als sie anhielten um das Dorf aus der Ferne zu betrachten, herrschte eine gespenstische Stille. Weit und breit kein Vogel, der hätte zwitschern können, kein Laub an den toten Bäumen, die bleich am Wegesrand standen, nicht einmal ihre Pferde schnaubten, sondern harrten der Kommandos ihrer Reiter. Für einen Moment wirkte es für Angus, als wären die Kreuzfahrer Krieger einer anderen, übernatürlichen Welt, die sich wie Geister geräuschlos über das Land bewegten. Das metallische Klingen von Stahl auf Stahl durchbrach die Stille, als die Männer von Morgans Trupp fast perfekt synchron ihre Waffen zogen und ihren Pferden die Sporen gaben. Liz gab einen kurzen schrillen Pfiff von sich und binnen weniger Augenblicke setzte sie mit ihren Leuten hinterher.

Obwohl es tatsächlich nur wenige Momente waren, die Morgans Trupp Vorsprung hatte, fühlte es sich wie eine halbe Ewigkeit an, denn als Angus zusammen mit Liz das Dorf erreichte, fanden sich dort bereits die ersten Toten vor den Häusern. Mit einer erschreckenden Ruhe sah er die Männer die Tür eines Hauses eintreten, hörte die Schreie der Bewohner, das Flehen um Gnade bis es wieder still wurde und sie das Haus wieder verließen, nur um am nächsten Gebäude das gleiche zu tun. Mit einer unheimlichen Routine löschten sie so nach einander jede Seele des Ortes aus. Zwei der Häuser wurden sofort den Flammen übergeben, die anderen wurden auf alles Verwertbare durchsucht, egal ob Münzen, Zinngeschirr oder Nahrungsmittel. Angus wurde mit dazu eingeteilt, die Toten des Ortes zu zählen und ihnen noch die letzten Habseligkeiten abzunehmen.

Es waren keine drei Stunden vergangen seit sie das Dorf betreten hatten, bis auch vom letzten Dach dicke schwarze Rauchsäulen in den Himmel stiegen. Angus blickte zu Morgan, der sich in Ruhe mit Liz unterhielt, die immer wieder nickte, ab und an lachte. Morgan bemerkte ihn, löste sich mit einem Nicken gen Liz aus dem Gespräch und kam auf ihn zu. Normalerweise wäre Angus erfreut gewesen, mit dem Veteranen reden zu können, doch in dem Moment war er nicht einmal sicher, ob er überhaupt mit ihm reden wollte.

„Du wirkst unglücklich, Junge.“ Morgan hakte die Daumen in den Gürtel und schmunzelte.

Angus schüttelte kaum merklich den Kopf, während er einen Sack mit Geborgenem in den Satteltaschen seines Pferdes verstaute. „Nicht unglücklich“, sagte er und zurrte die Riemen zu.

„Sondern?“

Angus hielt inne und blinzelte, als der Rauch der Feuer ihn in den Augen biss. „Warum? Ich meine, warum alle? Der Bericht sprach von Zweien. Warum mussten alle sterben?“

Für einen kurzen Moment flammte in Morgans Augen etwas auf, das Angus an den Blick eines Jägers erinnerte, der eine seltene Beute erspäht hat. Als der Ältere ihm die Hand auf die Schulter legte, zuckte Angus unwillkürlich zusammen und schämte sich augenblicklich dafür, doch Morgan schien es nicht bemerkt zu haben.

„Junge, denkst du wirklich, sie hätten gesagt, wer es ist?“

Angus runzelte die Stirn und blickte Morgan fragend an, der nicht davon auszugehen schien, dass der Jüngere die Frage beantwortete.

„Du dienst doch am Tor, Junge, bist Shukovs Protegé. Wenn du da oben auf der Mauer stehst, wenn die Flüchtlinge ankommen in ihren ewig langen Kolonnen, wie oft haben sie dir gesagt, wer von ihnen infiziert ist, hm? Wie oft liefern die Eltern die Kinder aus, oder die Männer ihre Frauen? Wie oft versuchen sie sich mit Lügen zu schützen, im Glauben, dass es vielleicht doch nur eine Erkältung ist? Diese Leute hier hätten nicht verraten, wer die Infizierten sind.“

Morgans Worte trafen direkt ins Schwarze. Geknickt über die Erkenntnis, die ihm eigentlich hätte klar sein müssen, ließ Angus den Kopf etwas sinken, doch eine Hand an seinem Kinn zwang ihn, wieder aufzusehen, direkt in Morgans Augen, die ihn eindringlich musterten.

„Es gibt keinen anderen Weg um sicher zu sein, gerade du weißt das genau. Einer mag jetzt krank sein, aber zwei weitere sind schon infiziert, wir sehen es nicht und schleppen es heim. Das darf nie passieren. Sie wollen uns nicht helfen, also müssen sie die Konsequenzen tragen. Mitleid und Gnade sind Schwächen, die wir uns nicht leisten können. Wir müssen schnell und gründlich sein, so schnell und so gründlich wie nur möglich.“

Angus nickte leicht. Es stimmte, es gab keinen anderen Weg um sicher zu sein. „Ich weiß“, antwortete er knapp.

Der Ältere streckte den Rücken durch und verzog den Mund zu einem schiefen, aber freundlichen Grinsen. „Du wirst mal 'n guter Anführer, wenn du so weiter machst. Aber du darfst eins nie vergessen, Junge. Am Wichtigsten ist nicht, den Befehlen zu gehorchen, sondern deinen Leuten zuzuhören. Erst zuhören, dann reden. Sei der Hirte in deiner Herde und du gewinnst nicht nur ihr Vertrauen, sie gehen für dich auch durchs Feuer.“

Er verpasste Angus einem kameradschaftlichen Hieb gegen die Schulter, was ihn plötzlich wieder die Ehrfurcht fühlen ließ, die er als junger Rekrut schon für Morgan empfunden hatte – und die schlagartig verflog, als das raue raubtierhafte Lachen von Liz erschallte, die sich inzwischen zu ihnen gesellt und einiges mitgehört hatte.

„Hirte! Hirte von Tyrs Hand! Wundervoll, darauf wäre ich im Leben nicht gekommen! Wie sieht's aus, Hirte, heute schon Schäfchen gezählt?“

Morgan wandte sich mit einem breiten Grinsen zu ihr um und vollführte mit seinen Fingerspitzen ein schroffes Wegstreichen unter dem Kinn in ihre Richtung, woraufhin sie versuchte, das Lachen zu unterdrücken, doch es klang eher, als würde sie versuchen, sich selbst zu ersticken.

Angus zuckte erschrocken zusammen als es laut im Kamin krachte. Einer der Holzscheite musste zu harzig gewesen sein oder sich etwas im Holz befunden haben, was es in der Hitze hatte zerplatzen lassen. Als es sich nicht wiederholte sondern nur das gleiche, sanfte Knistern zu hören war, entspannte er sich wieder.

Nach jenem Tag im Dorf war alles ... wie es zuvor gewesen war. Zumindest äußerlich. Der Tod der Bewohner lag auf seinen Schultern wie ein unsichtbarer Fels, der ihn zu zerquetschen drohte, doch er hatte es für sich behalten und auch kein anderer verlor darüber ein Wort. Es war ein Einsatz gewesen wie es viele andere bereits davor gegeben hatte und noch mehr andere danach geben würde. Dabei hätte ihnen allen klar sein müssen, dass Schuld an niemandem spurlos vorbei geht, sondern es immer eine Frage des Wann und des Wie war, in der sie sich äußerte.

Natürlich versuchte er Liz den Spitznamen auszutreiben, aber in solchen Punkten war sie immer wie eine pandarische Fingerfalle – je mehr man zog, umso enger hielt sie fest. Gab man hingegen nach...nun, er hatte nachgegeben. Er hatte angefangen den Namen zu dulden, bis er irgendwann gemerkt hatte, dass seine Kameraden ihn nicht zum Necken so nannten sondern aus Respekt.

Wie Morgan es ihm einst geraten hatte, hatte er wann immer möglich versucht, für die anderen ein offenes Ohr zu haben und es hatte sich ausgezahlt, als er seinen eigenen Trupp zugewiesen bekam. Oft hatte er überlegt sich bei dem Älteren für den Rat zu bedanken, doch irgendwie war es nie dazu gekommen. Anfangs noch, weil Angus einfach noch mitten in der Ausbildung und Morgan als Veteran fast ständig auf Einsatz war, später, weil es sich einfach nicht mehr richtig anfühlte.

Etwas hatte sich in den letzten Jahren geändert und doch Angus konnte nicht wirklich sagen, was. Die Stimmung im Kreuzzug war schon seit längerem gereizt, denn der Krieg in den Pestländern dauerte bereits deutlich länger als man je erwartet hätte. Aufgrund des Zerwürfnisses mit der Argentumdämmerung würde er auch noch viele Jahre weitergehen und weiter unzählige Leben verschlingen, die nicht selten in den Reihen des untoten Gegners wieder auftauchten. Mehr Kämpfe bedeuteten mehr Tote und damit mehr potentielle Untote für die Geißel. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab.

Der Frust über die Situation spiegelte sich auch in ihrem Alltag wieder. Rekruten wurden durch die Ausbildung geprügelt, die erheblich verkürzt war, um sie schneller in die regulären Truppen eingliedern zu können. Nicht selten blieben dabei einige auf der Strecke, die gnadenlos aussortiert und entfernt wurden. Übungskämpfe in der Freizeit endeten weit öfter blutig, seltener auch tödlich, da sie Frust und Wut besser abbauten als das stumpfe Einschlagen auf ein paar Holzpuppen.

Zusammen mit Malone Donohov, einem anderen Truppführer des 13., war Angus auf dem Übungsplatz und lieferte sich mit ihm einen Übungskampf auf drittes Blut. Donohov führte und reizte ihn mit einer spöttischen Geste, was auch seine Wirkung erzielte und Angus nur umso mehr anstachelte. Gerade als er zu einem neuen Angriff ansetzen wollte gellten Schreie über den Platz, die er nur zu oft schon gehört hatte. Er musste nicht zu den Rekruten am anderen Ende des Platzes sehen, dafür kannte er die Schreie menschlicher Kehlen zu genüge, wenn die Körper schwere Verletzungen erlitten und der Verstand der Verletzten nicht die Gnade hatte, sie in Schock oder Bewusstlosigkeit zu schicken. Er tat es trotzdem und sah einen Rekruten mit gesenktem Kopf im Staub knien, der sich unter ihm dunkel verfärbte.

Und da stand er. Über den Rekruten gebeugt, in einer Hand ein Schwert haltend, von dessen Klinge dicke Blutstropfen auf den staubigen Boden fielen. J. P. Morgan. Angus hätte ihn beinah nicht erkannt, war es doch auch schon eine lange Weile her, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Das entbehrungsreiche Leben des Kreuzzugs der letzten Jahre hatte Morgan vorzeitig altern lassen und zahlreiche Narben in seinem Gesicht verzerrten zum Teil seine Mimik. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, die von strähnigem Haar, das bereits von erstem Grau durchsetzt war, halb verdeckt wurden. Seine Statur war die eines drahtigen großen Raubtiers, was durch seine leicht gebeugte Haltung noch unterstützt wurde und ihn konstant angespannt wirken ließ.

Als habe er Angus' Anwesenheit gespürt hob Morgan ruckartig den Kopf und blickte zur Seite, so dass sich ihre Blicke trafen. Und da war es wieder, das Aufflammen in Morgans Augen, mit diesem euphorischem Glanz, als wolle er jeden Moment blitzschnell zustoßen und seine Beute zu Fall bringen. Langsam, als würde jemand den Strang der Zeit auseinanderziehen und Sekunden zu Minuten werden lassen, richtete Morgan sich auf, ließ die Schultern einmal kreisen und deutete einen knappen Salut gen Angus an. Ein Lächeln ließ die vernarbten Wange zuckten und verzerrte es zu einem halbseitigen Zähneblecken. Dann wandte er sich wieder zu den Rekruten, die zu ihm aufschauten wie soviele Jahrgänge vor ihnen, doch nicht in Verehrung, wie Angus bemerkte, sondern vielmehr in Furcht.

„Ihr werdet stärker und überlebt oder ihr bleibt so schwach wie ihr seid und geht unter.“ Abermals schaute er gen Angus und die Rekruten folgten seinem Blick. „So ist der Lauf der Dinge. Nicht wahr, Truppführer Bodkin?“

Angus nickte als er plötzlich angesprochen wurde und straffte die Schultern.

„Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“ Er sprach die Worte mit dem Stolz eines Kreuzfahrers, wie er sie vor vielen Jahren das erste Mal gehört hatte. Doch als die Worte über den Platz hallten bemerkte er, dass diesmal ihrem Klang eine unterschwellige Bitterkeit anhaftete.

Morgan sagte nichts weiter. Stattdessen gab er zwei der Rekruten einen Wink, den Knienden zu entfernen, welcher sich mit einem Wimmern seinem Schicksal fügte. Keiner von ihnen sah ihn je wieder und Angus war dankbar darum, einen solchen Schwächling nicht als Kameraden oder gar Bruder bezeichnen zu müssen.

Die ersten Scheite fielen zusammen und ließen Funkenwolken aufsteigen, die im Windsog des Kamins als glühende Wogen in den Schacht aufstiegen, um dort in der Finsternis zu vergehen.

Er war immer der Meinung gewesen, dass alles, was geschah, einem Zweck diente. Jeder Überlebende, jeder Tote spielte eine Rolle in einem größeren Geschehen, dass nur Licht allein kannte. Der Tod eines Menschen konnte motivieren, er konnte aber auch die Seele erschüttern und er konnte sogar das Licht erlöschen lassen, wenn er nur schwer genug wog.

Im Laufe der Jahre ergriff eine zunehmende Totalität den Kreuzzug, der immer verbissener gegen alles und jeden vorging, das sich im Hoheitsgebiet der Scharlachroten befand. Eine Art Wettstreit begann sich unter den Kreuzfahrern zu etablieren, bei dem die Zahl der eigenhändig Getöteten als Scharten und Kerben in Schilde und Waffengriffe geritzt wurden und der den Besten zusätzliche Rationen zur sonst mageren Verpflegung einbrachte - ein Ansporn, der aus vielen Einheiten gnadenlose Jagdtrupps machte und viele dazu motivierte, erst zu töten und dann zu fragen. Nicht selten kam es dabei zu Todesfällen unter Zivilisten, welche aber als Kollateralschäden verbucht und gebilligt wurden.

Auch der Schild von Angus zeigte bereits mehrere Kerben, die sich zu einem kunstvollen Muster zu winden begannen. Zusammen mit Donohov saß er auf der Treppe zum Wehrgang und schnitt gerade die letzte neue Kerbe in seinen Schild, als sich ein Schatten über ihn legte. Angus hielt inne und schaute auf – und direkt in das mürrische Gesicht von J. P. Morgan, welcher die Kerben kurz betrachtete und dann abfällig die Nase rümpfte.

„Es gibt keinen Grund, auf das Beenden von Leben stolz zu sein, wenn man geschworen hat, das Leben zu schützen“, knurrte er missmutig und spuckte zur Seite aus. Angus runzelte irritiert die Stirn. Von allen Kreuzfahrern, die er kannte, war Morgan einer der wenigen, von dem er am ehesten erwartet hätte, dass seine Kerben nicht mehr zu zählen waren, doch offenbar hatte er sich geirrt. Morgan ging zum Rest seiner Truppe und verließ kurz darauf mit ihnen zusammen Tyrs Hand.

Wenige Tage später verbreitete sich die Nachricht über ein Massaker, bei dem nicht nur ein ganzes Dorf sondern auch ein gesamter Einsatztrupp getötet worden waren. Mit einem unguten Gefühl ging er zu Shukov und fragte sie nach näheren Informationen. Shukovs Antwort war genau das, was er nicht hören wollte. Das Dorf war als verloren markiert und zur Reinigung freigegeben worden. Ein Einsatztrupp aus dem 12. Bataillon unter dem Kommando von J. P. Morgan hatte die Aufgabe übernommen, da es Morgans Heimatort war und er es als seine Pflicht angesehen hatte, sich persönlich darum zu kümmern. Laut Bericht war dies auch erfolgt, jedoch hatte jemand oder etwas auch die Scharlachroten exekutiert, bis auf den letzten Mann. Keine der Leichen war noch vollständig intakt gewesen. Köpfe und Gliedmaßen waren abgetrennt worden, einige fehlten ganz. Die verbliebenen Schädel waren skalpiert und die Ohren abgeschnitten. Erzählungen von Orcs und Trollen des Argentum machten die Runde, welche für ihre barbarischen Rituale die Männer getötet haben sollen.

Bis zuletzt hatte Angus gehofft, dass Morgan vielleicht nicht dabei sei, doch schließlich brachte man zwölf Tote zurück nach Tyrs Hand, den vollständigen Trupp. Keiner fehlte. Schweren Herzens erfüllte Angus seine Pflicht. Er strich die Namen von J. P. Morgan und seinen Kameraden von der Liste der Lebenden.

Mit einem Feuerhaken stochernd brach er die schon verbrannten Außenseiten auf, um die noch heiße Glut im Inneren frei zu lassen, die in neuen, zaghaft züngelnden Flammen zwar wieder zu Leben erwachte, doch deutlich schwächer war.

Der Tod von Morgan hatte ihn damals mehr mitgenommen als er wahrhaben wollte. Mit ihm war auch ein Teil des alten Kreuzzugs, wie Angus ihn gekannt hatte, gestorben. Die Rekruten hatte man in die Lücken der Bataillone gestopft und ihr Defizit an Erfahrung glichen sie durch einen Übereifer aus, der sie für einige Dinge blind machte.

Es verging fast ein weiteres Jahr bis abermals die bestialisch zugerichtete Leiche eines Scharlachroten gefunden wurde, deren Zustand identisch war mit den Toten von Morgans Trupp. Er war der erste von einer Reihe von Morden an Scharlachroten, die alle die gleiche Brutalität aufwiesen. Keiner glaubte an einen Zufall, deutete doch alles auf gezielte Angriffe hin. Stimmen wurden laut, die Präventivangriffe gegen die Silbernen forderten. Truppenkonfrontationen der beiden Orden verliefen immer öfter blutig, vor allem wenn Nichtmenschen beteiligt waren.

Je mehr Scharlachrote ihm zu Opfer fielen, umso mehr begann sich eine Legende um den Mörder zu bilden und bald wurde er nur noch als „der Flammenjäger“ bezeichnet, der Kreuzfahrer zu jagte und schlachtete. Die Jäger wurden zu Gejagten. Immer wieder schlugen die Versuche, den Mörder zu fassen, fehl, und immer mehr schlug die Vorsicht der Scharlachroten in Misstrauen gegenüber allem um, das nicht das Wappen des Ordens trug. Vor allem die Jüngeren ergriff eine Art Paranoia, da sie auf ihren ersten Einsätzen nicht selten die bevorzugten Opfer des „Flammenjägers“ waren.

Suchtrupps wurden vermehrt zusammengestellt um den „Flammenjäger“ zu ergreifen, doch ohne Erfolg. Durch die anhaltenden Morde und fehlende Berichte über die tatsächliche Existenz des „Jägers“ begann sich der Verdacht sogar gegen die eigenen Reihen zu wenden. Nicht selten wurde Angus mit seinen Wachen noch vor der Morgenmesse zum Exekutionsplatz gerufen, um die Leiche eines Scharlachroten vom Galgen zu holen, der von seinen Kameraden für schuldig befunden worden war.

Bis zu dem Tag, als ein Trupp den Täter auf frischer Tat beobachtete, jedoch zu weit weg war um ihn dingfest machen zu können. Der Bericht des Trupps riss den bestehenden Graben zwischen Argentum und Scharlachroten endgültig zu einer unüberwindbaren Schlucht auf und ließen den Konflikt endgültig eskalieren. Er berichtete nicht nur, dass der Täter tatsächlich den Wappenrock der Argentumdämmerung trug, sondern auch das bis dahin Undenkbare – der Täter war weder ein Troll noch ein Orc, sondern ein Mensch.

Ab da gab es für die Scharlachroten kein Halten mehr und jeder Silberne wurde ebenso zum Freiwild erklärt wie jeder Untote. Eine Entscheidung, die mit Forderungen nach Rache begrüßt und umgesetzt wurde. Die Gejagten wurden endlich wieder zu den Jägern.

Die Schwärze der Nacht breitete sich zunehmend im Zimmer aus, als das Feuer im Kamin allmählich zu einem Haufen glühender Holzscheite zusammenfiel und damit auf ungewollt bildliche Weise den weiteren Werdegang des Feuers des Scharlachroten Kreuzzugs und seines Kampfes gegen die untote Verderbnis darstellte.

Er selbst war dem „Flammenjäger“ in all den restlichen Jahren in Tyrs Hand nie begegnet, sondern hatte immer nur Erzählungen gehört. Bis zum Schluss.

Es waren die letzten Tage des großen Kreuzzugs in den Pestländern. So sehr die letzten, wie sie es nur sein konnten. Angus, Malone und eine Handvoll weiterer Offiziere waren gemeinsam mit ihren Trupps die letzten stationierten Kreuzfahrer in Tyrs Hand und verteidigten die Mauern nach Ost und West gegen jeden, der es wagte, sich zu nähern. Sie konnte keine Gefahr laufen, versehentlich verbündete Truppen zu erwischen, denn es gab keine mehr.

Bereits vor Wochen war der Großteil des Kreuzzugs mit Schiffen nach Norden gesegelt, um in der letzten Phase des Kriegs direkt ins Herz der Geißel zu stoßen und es zu zerschlagen. Unter ihnen waren auch Natasi Shukov und Elisabeth von Richwin. Angus hingegen hatte von Shukov den Befehl erhalten zurückzubleiben und Tyrs Hand zu halten, egal um welchen Preis. Er hat den Befehl nicht ohne Widerworte hingenommen, doch die Androhung auf Verurteilung für Insubordination hatte ihn verstummen und akzeptieren lassen.

Die zum Bleiben Befohlenen waren auf den Wehrgängen von Turm zu Turm gehetzt, hatten Kommandos gebrüllt und die Ballisten ohne Unterbrechung ihre tödlichen Salven feuern lassen um den Kreuzfahrern unter ihnen eine Schneise durch die untoten Heere aus Naxxramas zu bahnen, damit sie den Hafen von Neu-Avalon und die dortigen Schiffe erreichen konnten. Die Kämpfer beider Seiten waren zu Hunderten gefallen und hatten den Boden mit rotem und schwarzem Blut getränkt. Erst als die letzten roten Segel am Horizont verschwunden waren hatte Angus final realisiert, dass er wirklich zurückgelassen wurde.

Zwar gab es außer der letzten Reserve von Tyrs Hand noch einen Trupp, den man vor einiger Zeit in Richtung Sturmwind geschickt hatte, doch ob der dort angekommen war oder ob er überhaupt noch lebte, war ungewiss. Damit gehörte Tyrs Hand nun ihnen, keine hundert Mann, die mit allen Mitteln die Mauern der Stadt verteidigten.

Es war der größte Schock seines bisherigen Lebens als Angus eines frühen Morgens zur Wachablösung auf die Mauer stieg und feststellen musste, dass sein Kamerad nicht aus Müdigkeit zusammengesunken zwischen den Zinnen hockte sondern sich mit einem feuchtem Grunzen auf ihn zu stürzen versuchte. Angus konnte ihn gerade noch abwehren und über die Brüstung auf die Außenseite der Mauer stoßen, als ihm Schreie aus anderen Ecken der Stadt verrieten, dass dieser Mann nicht der einzige war. Irgendwie hatte es die Seuche in die Stadt geschafft, obwohl die Tore fest verschlossen waren.

Nie zuvor in seinem Leben hatte er solche Angst empfunden wie in diesem Moment als er erkannte, dass Tyrs Hand dabei war, dem Untod anheim zu fallen und das unter seiner Wacht. Was würde Shukov wohl sagen? Vermutlich nichts, aber er hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Er rannte die Stufen hinab zu den Baracken, mit dem Schwert auf den Schild schlagend um die Schlafenden zu wecken. Es dauerte nicht lange bis der Alarm auch die letzte Ecke erreichte und das ganze Ausmaß der Katastrophe klar wurde. Fast die Hälfte von ihnen hatte sich in den Nachtstunden infiziert und es wurden immer mehr, die von Fieber und Krämpfen gebeutelt zusammensanken und sich kurz darauf bereits als Untote erhoben.

Angus verstand die Welt nicht mehr. Bisher hatte es immer mehrere Tage gedauert zwischen Infektion und Wandel. Keiner von ihnen hatte etwas anderes gegessen oder getrunken als der Rest, keiner Unregelmäßigkeiten in den Patrouillen, kein Befall in den Baracken. Je weiter die Sonne sich jedoch erhob, umso mehr erlagen dem plötzlichen Untod, bis keine zehn Mann mehr übrig waren. Angus schaffte es nicht mehr sich zu den anderen durchzuschlagen ohne selbst Gefahr zu laufen, von der Überzahl überwältigt zu werden. Es blieb ihm nur, sich auf einen der Wehrtürme zurückzuziehen und dort zu verschanzen. Den anderen ging es nicht besser und so harrten sie auseinander gerissen und verteilt auf Dächern, Zinnen und Türmen ihres Schicksals. Ohne Wasser und ohne Nahrung war es war nur eine Frage der Zeit, bis auch sie fallen würden. Spätestens, wenn die Müdigkeit sie übermannen würde.

Als die Sonne sich allmählich dem Horizont näherte ertönte der klare Ton eines Kriegshorns. Angus konnte sehen, wie der von Wolken getrübte Schein der Sonne sich auf unzähligen Plattenrüstungen spiegelte, die sich näherten. Für einen kurzen Moment schöpfte er Hoffnung, doch dann erkannte er dass die Rüstungen nicht rot sondern silbern waren. Noch ehe er den anderen eine Warnung zurufen konnte explodierte das gigantische Tor von Tyrs Hand in tausende Splitter, die sich durch die aufgebrachten Untoten in der Stadt fraßen. Das Heer der Argentumdämmerung stürmte durch das zerstörte Tor in die Stadt der Tausend Kirchen wie ein Rudel Hyänen auf ein verletztes Tier. Mit kalter Effizienz schwärmten die Truppen aus und beseitigten binnen kurzer Zeit jeden der scharlachroten Untoten. Angus sah wie einer der Silbernen kurz über einem Untoten mit eingeschlagenem Schädel verharrte, sich dann umblickte und die wenigen noch Lebenden entdeckte, die sich auf den Wehrgängen verschanzt hatte. Der Mann kletterte in überraschendem Tempo die Stufen empor und ehe Angus einen Ton herausbrachte sauste die Klinge des Mannes nieder, enthauptete den ersten der Lebenden und wandte sich sofort dem zweiten zu. Der Scharlachrote hatte keine Chance und auch er fiel unter dem Hieb des Silbernen. Einem nach den anderen zerrte der Argentumstreiter aus den Verstecken und streckte sie nieder, bis er schließlich auf Angus zukam, dem das Blut in den Adern gefror.

Mit einem bösartigen, zähnefletschenden Grinsen kam ein lebender Alptraum auf ihn zu. Angus kannte die Augen, die giftig unter den strähnigen Haaren hervorblitzten, er kannte die Narben, die das Gesicht zu einer Maske des Hasses verzerrten. J. P. Morgan ging langsamen Schrittes auf ihn zu während er das Schwert hob und ankündigend auf Angus zeigte und ihn damit zum nächsten Ziel erklärte. Angus war nicht in der Lage etwas zu sagen oder sich zu rühren. Zu geschockt war er, den ehemaligen Waffenbruder zu sehen und in ihm den zu erkennen, den sie als „Flammenjäger“ hassten und fürchteten.

Das Schwert sauste auf ihn nieder, doch ehe es ihn berührte gellte ein lauter Schrei über den Platz. Unten, zwischen mehreren Leichen, stand ein Mann im Ornat des Klerus der Argentumdämmerung. Schwarzes, glänzendes Haar lockte sich um ein feingeschnittenes, bartloses Gesicht mit stechend blauen Augen. Der Kleriker wirkte noch jung doch haftete ihm eine Aura an der Autorität an, die sofort jeden um ihn herum in den Bann zog.

„Wir töten nicht die Lebenden, Bruder Morgan!“, schrie der Mann zu ihnen hinauf, „Auch nicht, wenn sie im Dienst für das Licht versagt haben.“

Morgan hielt inne, dann nickte er minimal und senkte tatsächlich langsam die Klinge. Im nächsten Moment packte er Angus blitzschnell am Kragen und schleuderte ihn mit einem kräftigen Schwung von der Mauer auf den Platz hinunter. Weißglühender Schmerz jagte durch den Schildarm, als Angus ungebremst zu Füßen des Klerikers aufschlug, der auf ihn hinabschaute wie auf einen verurteilten Ketzer, doch entgegen seines Blickes war die Stimme überraschend sanft.

„Ihr solltet gehen. Hier gibt es nichts mehr für Euch.“

Angus schaute zu ihm auf, dann an ihm vorbei, zu den Kirchen und Kapellen, aus denen gerade die Scharen der Silbernen diverse Reliquien und Artefakte trugen. Scharlachrote Reliquien und Artefakte. Bittere Galle stieg in Angus auf und ließ ihn vor Wut zittern.

„Geht nach Süden“, fuhr der Kleriker fort, „dort gibt es noch einige wie Euch.“

Die anderen Überlebenden wurden mit zu Angus und dem Kleriker getrieben und erhielten den gleichen Rat. Morgan lehnte beobachtend an der Mauer, das Gesicht noch immer zu einem diabolischen Grinsen verzerrt, und offerierte den Roten seine Art von Alternative, indem er den Zeigefinger mit der Spitze an seinen Hals legte und mit dieser langsam einen demonstrativen Schnitt quer über die Kehle zog.

Sie protestierten, sie schrien, sie fluchten, doch alle Gegenwehr half nicht. Letztendlich nahm man ihnen die Waffen ab, ließ ihnen lediglich die Rüstung und zwei Pferde und Verpflegung für einen Tag. Noch am gleichen Tag jagten die Streiter der Argentumdämmerung die letzten lebenden Scharlachroten mit Tritten und Schlägen aus Tyrs Hand.

Das Feuer war erloschen. Gedankenverloren stocherte Angus mit dem Feuerhaken in der Asche. Ein Luftzug ließ ein paar Ascheflocken erzittern ehe er sie in den Kamin hinauf sog. Dort, inmitten der verbrannten Reste, glomm noch ein kleiner schwacher Rest des vormals kräftigen Feuers. Mit etwas Geschick könnte er es wieder aufflammen lassen und vor dem völligen Erlöschen bewahren.


Morgans Verrat hatte seine Welt in Scherben splittern lassen. Er hatte nie verstanden, was das einstige Vorbild seiner Jugend zu einem wahnsinnigen Schlächter an seinen eigenen Kameraden hatte werden lassen. Das gesamte Ausmaß des Wahnsinns jedoch kannte er erst seit kurzem...

Eine Ewigkeit war er nicht mehr in Herdweiler gewesen. Es war auch weniger Absicht als Pragmatismus, der ihn und seine Ordensgeschwister vor die Tore der Stadt gebracht hatte und ja, er war durchaus skeptisch gewesen, wie man sie empfangen würde. Die kühle Reserviertheit der Wachen war etwas, womit er umgehen konnte und zumindest legte es keiner der Silbernen darauf an, einen Streit vom Zaun zu brechen.

Zumindest war das der Eindruck gewesen, bis sich eine Gestalt in dunkler, abgenutzter Rüstung mit dem Wappenrock des Argentumkreuzzugs näherte. Er musste das Gesicht nicht einmal sehen um anhand der leicht gebeugten, raubtierhaften Haltung mit dem prahlerischen Gang eines überlegenen Siegers zu erkennen, wer es war. J. P. Morgan machte keinen Hehl daraus, genau in diesem Moment mehrere Schützen auf Angus zielen zu lassen. Im Gegenteil, er sagte ihm sogar direkt ins Gesicht, dass er seit dem Tag in Tyrs Hand seine Beute sei und er ihn kriegen würde, so wie auch die anderen.

Angus verharrte schweigend, nicht bereit sich provozieren zu lassen. Morgan, der es sichtlich genoss ihn zu reizen, hielt ihm ein Bündel Abzeichen unter die Nase. Abzeichen, welche einstmals Scharlachrote getragen hatten, einige für Einsätze, andere für Dienstdauer. Abzeichen, die er seiner erlegten Beute abgenommen hatte. Mit an Hybris grenzender Selbstsicherheit zog Morgan ein bestimmtes Abzeichen hervor und Angus fühlte die Wut in ihm aufsteigen, die ihn drängte, blindlings vorzustürmen. Es war ein Abzeichen, das jeder der letzten Verteidigung von Tyrs Hand bekommen hatte, auf dessen Rückseite in kleinen Buchstaben der Name „ M. Donohov“ eingraviert war.

Er hatte ihn nicht geschlagen. Er hatte ihn auch nicht angeschrien. Aber er hatte ihm geschworen, ihn für den Verrat und die Morde an seinen Brüdern und Schwestern zur Rechenschaft zu ziehen und nicht zu ruhen, bis J. P. Morgan nicht nur auf dem Papier tot sein würde, während Morgan ihm versprach, Angus wieder mit seiner Einheit zu vereinen.

Es war kalt in seinem Zimmer und durch das Fenster konnte er sehen, dass der Himmel im Osten allmählich heller zu werden begann. Mit einem Seufzen setzte Angus sich an seinen Tisch und nahm den Brief aus dem Umschlag mit dem Teefleck. Dann griff er zu seiner Schreibfeder und begann auf einer neuen Seite eine Antwort zu verfassen.

„Das Licht immer mit Euch, Schwester Ogilvy, möge es Euch stets schützen.

Ich hoffe, das Winterhauchfest konnte Euch und Eurem Orden etwas Ablenkung vom Alltag bieten. Es hätte mich in der Tat gefreut, Euch persönlich grüßen zu können, doch man sagte mir, dass Ihr zum Zeitpunkt unserer Anwesenheit nicht in Herdweiler zugegen wart.

In Anbetracht dessen erlaube ich mir, Euch erneut zu schreiben, da es nicht zuletzt an mir ist, unsere Korrespondenz fortzuführen. Ich hoffe Ihr könnt mir meine verspätete Antwort nachsehen, doch es gab Dinge, die dringender meine Aufmerksamkeit forderten und halbherzig geschriebene Briefe sind meist das Papier nicht wert, das sie benötigen.

Wie dem auch sei, ich habe Euch leider nicht nur Glückwünsche, Grüße und einige Kleinigkeiten zu Winterhauch zu senden, sondern auch ein Anliegen, welches sich erst in Herdweiler selbst ergab aber von ziemlicher Dringlichkeit ist.

Es ist mir bewusst, dass ich hierbei die Schwelle unserer freundschaftlichen Bekanntschaft strapaziere, doch da mir durchaus an Eurem Wohlbefinden liegt, Schwester, erspare ich mir heute die Neckereien und möchte Euch unverblümt eine Warnung senden. ...“

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