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Qsicon Exzellent Dieser Artikel wurde am 11. Januar 2018 als Spotlight der Woche vorgestellt.
Längste Weg-Kopf

Kapitel 6

Angus stand auf den Wehrgängen, abseits der Feuerschalen im Halbdunkel, und genoss das Gefühl der kühleren Abendluft auf der Haut. Noch immer klangen ihm van de Flierdts Worte in den Ohren: „Sie muss für ihre Taten Buße tun. Wenn sie es überlebt, war es Lichtes Wille und damit bin ich zufrieden.“

Er blickte hinüber zur Motte Klarblick, zu einem einzelnen Fenster im Obergeschoss, was eher eine Schießscharte als ein Fenster war. Es wirkte wie eine Ewigkeit seit er diese Worte schon einmal gehört hatte. Und nur zu gut erinnerte er sich daran, wohin sie geführt hatten.

Es war wieder einer dieser Tage in Tyrs Hand, an denen man nicht sagen konnte ob es noch Nacht oder schon Morgen war. Die Nebelschwaden hingen so tief in den Tälern, dass selbst die Fackeln, die sie an den Wegen nahe der hohen Mauern aufgestellt hatten, nicht mehr richtig zu erkennen waren. Die Luft roch nach süßlicher Fäule und kroch kühl und klamm durch sämtliche Ritzen der Unterkünfte und durchdrang die Wachen wie die Schlafenden bis auf die Knochen. Die Feuerschalen waren aus, da das wenige Holz zu feucht war um wärmebringend zu verbrennen und schwelend eher die Sicht noch mehr behindert hätte.


Die Wachen lösten sich gerade ab und die ersten Patrouillen machten sich bereit, Tyrs Hand zu verlassen. Auf dem Innenhof sammelten sich mehrere Gardisten in voller Bewaffnung, drei weitere zwischen sich, denen man die Rüstung abgenommen hatte und deren Hände auf dem Rücken verborgen waren. Angus beobachtete die Prozession mit gerunzelter Stirn, vorallem als er sah, dass einer der drei einer der Kameraden aus dem 13. Bataillon war. Natasi blickte zu ihm, schaute nur kurz auf die Abgeführten, dann wieder nach draußen ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen.

“Diebe.”

Mehr sagte sie nicht und doch sagte sie damit alles, was es zu sagen gab. Mit Corins Kreuzung fehlte ein wichtiger Knotenpunkt der Truppenversorgung und die Folgen waren für jeden einzelnen zu spüren. Die Tagesrationen waren auf weniger als die Hälfte gekürzt, oft nur ein karges Frühstück aus dünnem Brei, das für den Tag reichen musste. Nicht selten wurden inzwischen Diebstähle gemeldet, von Zivilisten wie Kreuzzüglern, ausgelöst durch Hunger und Durst. Vor zwei Tagen war sogar Wasser aus der Kathedrale entwendet worden, doch für ertappte Täter war weder Mitgefühl noch Gnade wegen ihrer Not zu erwarten. Wer erwischt wurde, wurde verhaftet und für gewöhnlich nicht wieder gesehen, galt er doch mit seiner Tat als zu charakterschwach.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend löste Angus den Blick von der Prozession und hob die Hand vor den Mund, um sein Gähnen zu verbergen. Ihm brannten die Augen und die Gelenke schmerzten, doch er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. Schon seit dem Vorabend standen sie beide auf der Mauer und hielten Wache. Während sie auf den Wehrgängen der Mauer auf und ab schritten, fragte Natasi ihn wieder und wieder nach den Stützpunkten des Ordens in den Pestländern und in Tirisfal ab, nach den Kommandanten, Hierarchien, Truppmarkierungen, Bannerzeichen, Stärken und Schwächen der einzelnen Einheiten, Kurzzeichen für die wortlose Kommunikation… Sie gab sich alle Mühe ihm keinen Moment der Erholung zu gönnen sondern ihn stundenlang auf Konzentration zu trimmen.

Er schmunzelte ein wenig. Natürlich hatte er es nicht immer durchgehalten und war teils fast im Stehen vor ihren Füßen eingeschlafen. Umso wacher war er dafür gewesen, wenn ihr gepanzerte Hand als Ohrfeige in seinem Gesicht gelandet war.

Gerade als er wieder kurz vor dem Einnicken war und sich der plattenbewehrte Ellbogen von Shukov unfreundlich in seine Rippen drückte, erklang ein Ruf von einem der anderen Wachposten. Durch die Nebelschwaden zeichneten sich nach und nach Umrisse ab, welche zwar schwankten, jedoch stetig näher kamen. Trübe kleine Lichter, wohl Laternen, schienen zwischen ihnen zu schweben wie unheilvolle Zauberkugeln. Am Anfang noch unförmig und vage zu erkennen wurden es bald sichtbar, dass es sich um Flüchtlinge aus dem Binnenland handeln musste. Mehrere Dutzend, so schätzte er allein von der Breite der Kolonne, welche unaufhaltsam auf Tyrs Hand zuhielt. Binnen Sekunden erwachte der Bereich hinter dem Tor zum vollen Leben. Befehle wurden gerufen, dunkelrot gekleidete Wachen huschten über den Innenhof, bildeten ein bewaffnetes und gerüstetes Spalier zum Empfang der Neuen, Armbrüste und Gewehre wurden schussbereit gemacht.

Shukov hob die Hand und langsam öffnete sich das Tor mit einem tiefen Knarren, welches den Boden vibrieren ließ. Spätestens jetzt wurde auch in den nahestehenden Baracken Licht entzündet, wenn sie nicht eh schon von den Wachrufen geweckt in Bereitschaft gingen. Angus blickte noch einmal über die Mauer zurück und sah, dass die Schatten sich bis zu den äußeren, noch erkennbaren Fackeln erstreckten. Es mussten weit über 100 Menschen da unten sein.

“Zu viele. Dann sortieren wir mal…”, murmelte Shukov und prüfte dabei noch einmal den Sitz des Handschuhs.

Nachdenklich ließ er den Blick über die Baumwipfel schweifen. Vielleicht wollte Licht damals, dass er sieht und begreift, was sie taten und tun mussten, und doch hatte er damals gehofft, dass ihm diese Erfahrung erspart bliebe. Ein Wunschdenken.

Mit Schilden und Speeren wurden die Neuankömmlinge aufgeteilt und in verschiedene Bereiche des Vorplatzes dirigiert. Angus rief drei weitere Gardisten des 13. Bataillons zu sich und positionierte sich mit ihnen auf der rechten Seite, Shukov und ebenfalls drei weitere gingen nach links. Beide wussten welche Aufgabe sie jeweils hatten und konzentrierten sich schweigend darauf, die hoffnungsvollen Blicke der Ankömmlinge, ihre Worte voll Dank und Erleichterung an sich abprallen lassend.

“Es gibt nur drei Stimmen, auf die du zu hören hast”, hatte Shukov ihm einmal gesagt. “Deinen Vorgesetzten, das Licht und deinen Verstand. Wie lange du am Leben bleibst hängt davon, ob du schlau genug bist, immer auf die jeweils richtige zu hören.” Gerade jetzt in diesem Moment war es der Vorgesetzte. Anders war es nicht ertragbar.

Weit über die Hälfte der Neuankömmlinge wurden auf Angus’ Seite dirigiert. Zwei Kleriker kamen zu ihnen, den Gewändern nach Inquisitoren. Einer nach dem anderen wurde von ihnen kurz prüfend gemustert, und mit einfachen Handgesten entschieden, wer von ihnen in einen Käfig geschoben wurde oder vor einer Baracke Aufstellung nehmen musste. Die im Käfig waren dabei noch die Glücklichen, hatte man sich doch bei ihnen für eine Quarantänezeit entschieden um ihnen eine Chance zu geben. Die anderen würden die Gnade des Lichts erfahren und Erlösung von ihrem Leid finden. Diesen letzten Dienst würden sie ihnen gewähren und ihre Seelen damit retten. Das war der einzige Trost, den er hatte, wenn er später seine Waffen und Rüstung von ihrem Blut reinigen würde.

Schon lange wurden keine Infizierten mehr erschossen. Munition war knapp und musste für die wichtigen Situationen gespart werden. Stattdessen war es an den Gardisten, sie mit raschen gezielten Hieben zu enthaupten. Gerade den jüngeren Gardisten gelang dies nicht immer, was sie wiederum selbst in die Ziellinie ihrer Befehlshaber brachte, und so hallte über den Vorplatz ein Gemisch aus Dankesrufen der Geschohnten, Verzweiflungsschreie der in Quarantäne Inhaftierten, panischem Kreischen der Todgeweihten und den Schmerzenslauten der Gardisten, welche ihre Schwäche mit Peitschenhieben bezahlten.

Angus machte Letzteren keinen Vorwurf. Er selbst hatte es am Anfang ebenfalls nicht gekonnt, hatte gezögert und sogar verfehlt, bis Elisabeth in ihrer unnachahmlich fürsorgenden Art ihm den Kopf an den rechten Fleck gerückt hatte.

“Glaubst du, du tust ihnen einen Gefallen, indem du sie noch länger leiden lässt und erst noch verkrüppelst, statt ihnen einen raschen, sauberen Tod zu geben? Sie sind nicht rettbar! Was glaubst du wem du damit hilfst? Hm? Bist du zu schwach eine kranke Seele von ihrem Leid zu befreien? Was willst du dann hier!”

Er verzog das Gesicht und spürte das Ziehen der Narben auf seinem Rücken, die ihn stets daran erinnerten, dass Gnade mehr war als Leben zu lassen, sondern manchmal auch darin bestand, zu töten.

Er war lange genug an Shukovs Seite um selbst seinen Exekutionstrupp zusammen zu stellen, wobei er immer einen Gardisten dazu wählte, von dem er wusste, dass er zaudern würde, doch dass allein die Zusammenarbeit der anderen ihn dazu bringen würde, zu tun, was von ihm verlangt wurde.

Die Arbeit verrichteten sie schweigend, mit mechanisch wirkenden Bewegungen, leerem Blick und stoischen Mienen. Eine unheimliche Stille hatte sich über den Platz gelegt, als sie fertig waren. Niemand sagte etwas. Selbst die Neuankömmlinge verharrten in Schweigen, vermutlich aus Angst, ein zufälliger Laut würde die Aufmerksamkeit erregen und die Priester sich doch noch umentscheiden lassen.

Doch gerade als sie zum Säubern der Waffen und Rüstung zurück in die Baracke gehen wollten, gellte ein Pfiff. Angus kannte den Ton nur zu gut. Er schaut fragend gen Elisabeth, welche wortlos auf die drei Diebe deutete. Für einen Sekundenbruchteil war er sich sicher, ein spöttisches Funkeln in ihren Augen zu sehen, als ihm in Entsetzen klar wurde, dass einer der drei aus seiner Einheit war und er ihn richten sollte. Als er weiter zögerte zuckten ihre Mundwinkel nach oben.

“Was denn, ist der Herr etwa zimperlich wenn es darum geht, ein Urteil zu vollstrecken? Du kennst die Strafe, du kennst das Urteil, also führ es aus.”

Klangen ihre Worte zunächst noch nach kühlem Hohn schlugen sie mitten drin um in kalte Schärfe, die klar machte, was ihm blühen würde, wenn er sich widersetzte. Shukov gesellte sich zu beiden und drückte ihm ohne eine Silbe der Erklärung ihr Schwert in die Hand. Angus blickte von der Waffe in seiner Hand zu den drei Deliquenten. Zwei von ihnen hielten den Kopf gesenkt, der dritte blickte ihm direkt in die Augen. Für einen Moment hatte Angus das Gefühl, als würde ein paar Hände nach seinem Hals packen und ihn würgen. Seine Gedanken rasten. Ja, er kannte das Vergehen, er kannte die Strafe. Er wusste wie gnadenlos Diebstahl bestraft wurde, und doch kniete hier einer vor ihm, mit dem er seit dem Tag, als er dem Kreuzzug beigetreten war, Seite an Seite gewacht, gekämpft und geblutet hatte. Sein Blick fiel auf das Schwert in seiner Hand, dann auf Shukov.

“Sie sind Diebe, ja, und ich weiß welche Strafe darauf steht. Aber können wir es uns leisten, ihre Kampfkraft zu verlieren?”

Natasis Blick verhärtete sich. Elisabeth lachte einmal laut und bitter auf. Offenbar hatte er ihr Vorstellung von seiner Entschussfähigkeit komplett erfüllt, aber es kümmerte ihn nicht. Mit einem Ruck riss Natasi ihm das Schwert aus der Hand, packte ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. Dass er sie dabei über einen Kopf überragte minderte ihre Kraft und Autorität dabei nicht im geringsten. Sie schleifte ihn bis zu einem Glutbecken, wo Schmiede Ketten und Fesseln fertigen. Sie packt ein in der Glut steckendes Eisen, an dessen rotglühendem Ende sich das Symbol des Ordens abzeichnete - das Brandzeichen für diejenigen, die einmal zu oft verfehlt hatten um ohne Makel zu sein, doch nicht schwer genug verfehlt hatten um den finalen Richtspruch zu erhalten.

“Deine Entscheidung. Deine Verantwortung.”

Damit übergab sie das Eisen an Angus, wandte sie um und ging. Elisabeth blieb bei ihm, sagte jedoch nichts sondern beobachtete ihn nur mit dem Blick eines Raubtiers, das darauf wartete, dass sein Ziel einen Zeichen von Schwäche zeigte um es reißen zu können.

Den Geruch des verbrannten Fleischs auf ihren Händen hatte er nie vergessen. Manchmal, wenn in der Küche ein Braten garte oder er einem Inquisitor zu Hand gegangen war, kehrte der Moment kurz in seine Erinnerung zurück. Das Zischen des heißen Eisens, das Zittern der Hände, welche blutig roh geschwollen waren und für lange Zeit nicht zu gebrauchen waren.

Sie hatten keinen Laut von sich gegeben, sondern es stumm ertragen, auch wenn ihre Mimik anderes gesprochen hatte. Gebrandmarkt waren sie zu ihren Einheiten zurückgeschickt worden um ihren normalen Dienst wieder aufzunehmen. Angus hatte erwartet, dass sie von ihren Kameraden gescholten werden würden für ihren Egoismus, vielleicht sogar verprügelt, doch zu seinem persönlichen Entsetzen erkannte er bald, dass er sich geirrt hatte.

Niemand sprach mit ihnen. Niemand half ihnen. Niemand blickte sie auch nur an. Sie wurden ausgegrenzt, wie Aussätzige behandelt und nicht selten blieben ihre Rationsschüsseln halb leer im Vergleich zu denen der anderen. Es dauerte nur wenige Tage, bis der erste von ihnen sich während seiner Wachschicht Tyrs Hand verließ und nicht zurückkehrte. Die anderen beiden meldeten sich bei ihren Vorgesetzten freiwillig für einen Einsatz bis ins Hügelland, um einen Versorgungskonvoi nach Tyrs Hand zu holen und so die gestohlenen Güter wieder auszugleichen. Noch am gleichen Tag zogen sie los. Shukov, Angus und Elisabeth standen auf der Mauer und schauten den beiden nach, wie sie langsam in den Dunstschwaden der Pestländer verschwanden und Elisabeths Feder zwei Namen aus ihrer Liste strich.

“Und, edler Recke, bist du zufrieden? Ist das Mal nicht gnädiger als der Tod?”, fragte Elisabeth mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen, was ihre Augen fast schon boshaft blitzen ließ. “Sie hätten ja schließlich auch einfach fragen können, hm?”

Angus antwortete nicht, stattdessen grunzte Shukov auf ihre Art. „Sie müssen für ihre Taten Buße tun. Wenn sie es überleben, war es Lichtes Wille und damit bin ich zufrieden.“

Wenige Tage später zitierte Shukov Angus zu sich. Ohne ein Wort der Erklärung ließ sie ihren Kodex vor ihm auf den Tisch fallen und schlug ohne hinzublicken eine der ersten Seiten auf. Sie erzählte ihm dass ein Einsatztrupp unweit von Tyrs Hand von Untoten angegriffen worden war, wobei zwei der Untoten die roten Rüstungen des Ordens getragen hatten. Drei Männer des Trupps waren dabei verletzt und infiziert, ein vierter direkt getötet worden. Als er ansetzen wollte etwas zu erwidern ließ ihr Blick ihn verstummen. Statt dessen deutete sie mit dem Zeigefinger auf eine Stelle in ihrem Kodex und verpasste ihm einen harten Klaps auf den Hinterkopf.

Noch immer stand er auf den Wehrgängen, während seine Hand sich auf seinen eigenen Kodex gelegt hatte, den er immer bei sich trug. Noch immer konnte er die kunstvoll Initialen vor sich sehen, die auf den alten Seiten von Shukovs Kodex in leuchtendem Rot geprangt hatten, verziert mit Ranken, Blättern und kleinen Flammen. Er hatte damals bis tief in die Nacht vor ihr gestanden und wieder und wieder den gleichen Absatz gelesen um endlich zu begreifen. Er nahm seinen Kodex zur Hand und öffnete ihn, schlug eine Seite weit am Anfang auf und las, wie damals: “Unbeholfene Helfer, helfen auf die falsche Weise, machen es schlimmer statt besser und vergrößern so das Leid auf der Welt.”

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