Dieser Artikel wurde am 08. Februar 2016 als Spotlight der Woche vorgestellt. |
Kapitel 5
Die brennenden Holzscheite knisterten leise, während sie langsam in sich zusammenfielen und das Feuer kleiner wurde. Der warme Schein der Flammen, sonst so oft ein Trost in der dunklen Nacht, war hier eher wie eine dauerpräsente Erinnerung an Dinge, die vor Jahren geschehen waren und auf skurile Art und Weise lebendig waren wie eh und je. Lebendig. Wenn es ein Wort gab, dass am wenigsten mit den Pestländern verbunden war, dann jenes. Angus saß am Lagerfeuer, den Blick auf die Flammen gerichtet, während seine Gedanken zwischen dem Jetzt und dem Damals hin und her schweiften wie ein riesiges Pendel, dass unaufhörlich in Bewegung blieb. Die Finger hielten den Becher umklammert, welcher inzwischen erkalteten schwarzen Tee enthielt.
„Du wirst sie nicht wiedersehen“, hallte eine Stimme noch immer in seinem Kopf. Auch wenn er wusste, dass es nur eine Einflüsterung von dunklen Kräften war, war diese Gewissheit doch nur ein schwacher Trost….
„Du wirst sie nicht wiedersehen.“
Das war sein erster Gedanke, als seine Füße sich langsam in Bewegung setzten und über die gepflasterte Straße schritten. Die Mauern der Stadt erhoben sich hinter ihm und im roten Licht der Abendsonne wirkten die sonst fast weißen Steine als würden sie glühen. Wie ein dunkles Tuch breiteten sich die Schatten immer weiter aus und ließen die Zinnen reißzahnartig wirken, als sie hier und da dunkle Kerben in das helle Pflaster bissen. Die Glocken der Stadt schlugen zur Abendstunde und das schwere Stadttor schloss sich hinter ihnen. Stille. Schlagartig waren die Gesänge aus den Gassen, das Gelächter der Leute und das Markttreiben von Stratholme verstummt. Was blieb waren die Schritte auf der Straße, die Hufe der Pferde und das Knarzen der Wagenräder, während Angus und sein Vater die Reise zurück nach Darroheim antraten. Für ihn war es das erste Mal gewesen, dass er Stratholme gesehen hatte und es hatte ihn berauscht wie zu süßer Wein. In dem Moment, da er die Stadt betreten hatte, war ihm klar gewesen, dass er seine Zukunft nicht auf dem Dorf sondern in der Stadt suchen wollte, doch er wusste nur zu gut dass sein Vater dies nicht erlauben würde. Was würde sonst mit dem Hof werden? Die Erkenntnis war bitter, aber so war der Lauf der Dinge.
Die Reise zurück war weit und beschwerlich. Mehrere Tage waren sie unterwegs, schlugen hier und da ihr Lager auf. Es war Frühjahr in Lordaeron und die Tage waren warm, die Nächte mild. Das Land erblühte und an allen Ecken zeigten sich frisches Grün und farbenprächtige Blumen, als hätten es nur auf ein Signal gewartet. In Darroheim selbst liefen die Vorbereitungen für das Maifest auf Hochtouren. Der Maibaum wurde errichtet, die Mädchen knüpften farbige Bänder und schmückten Bäume und Zäune damit. Birkenreißig und Weidenkätzchen fanden sich in fast jedem Fenster. Der Duft von frischem Kuchen war schon von weitem zu riechen und die Obstbäume in den Hainen leuchteten im unschuldigen Weiß ihrer Blütenpracht.
Den Abend des Festes würde er nie vergessen. Vielleicht das riesige Feuer auf dem Dorfplatz. Vielleicht das frisch gezapfte Bier, das sein Vater ihm spendiert hatte. Vielleicht auch irgendwann den Vollmond, der in dieser Nacht hell und fast golden gestrahlt hatte. Aber niemals sie.
Sie war lachend auf ihn zukommen, hatte ihn an der Hand gefasst und mit gezerrt, als er ihre Aufforderung zum Tanz mit höflichen Floskeln ablehnen wollte. Ein Kranz aus geflochtenen Maiblumen ruhte auf ihrem haselnussbraunen Haar und ein kleiner Zweig mit Kirschblüten klemmte hinter ihrem Ohr. Ihm selbst brummte vom Bier der Schädel und seine Füße bewegten sich schon immer eher mit der Grazie eines Ackerpferdes denn der eines Rehs, doch das hielt sie nicht ab. Immer wieder trat er ihr auf die Zehen und immer wieder entschuldigte er sich bei ihr, doch sie lachte nur und drehte sich in seinen Armen, als gäbe es kein Morgen mehr. Die Zeit hörte schlicht und einfach auf zu existieren und die Welt gehörte nur ihnen beiden. Vom ersten Blick an in ihre grünen Augen war ihm klar, dass sie zusammengehören und nichts und niemand konnte sie wieder trennen. Vergessen war Stratholme, vergessen war der Wunsch, in die Stadt zu ziehen. Er würde hier bleiben, bei ihr bleiben. Am Tag der längsten Sonne kniete er umringt von goldenen Ähren vor ihr und hielt um ihre Hand an. Sein Herz zersprang fast vor Freude als sie „ja“ sagte und den Ring annahm, ein einfaches Stück aus Kupfer und Eisen, doch für sie das schönste, was sie je besessen hatte.
Der Sommer kam und es schien kein größeres Glück zu geben als ihres. Wann immer es die Zeit zuließ trafen sie sich zwischen den Feldern oder am Dorfplatz. Angus, sonst eher ruhig und ernst, der abgesehen vom sonntäglichen Kirchenbesuch nur selten im Dorf unterwegs war, verbrachte seine Abende auf einmal in Gesellschaft. Sie begannen gemeinsame Pläne zu schmieden über eine gemeinsame kleine Hütte und ein eigenes Stückchen Land, malten sich in ihren Träumen aus wie sie zusammen eine Familie gründeten, umringt von Feldern, Weiden und Obstbäumen. Er versprach ihr den Himmel auf Erden und dass es niemals eine andere geben würde und er alles dafür tun würde, damit es ihr niemals an etwas fehle.
Ein Lächeln huschte für einen kurzen Moment über sein Gesicht. Ja, das war die glücklichste Zeit seines Lebens. Er schloss die Augen und sah ihr Gesicht, ihre strahlend grünen Augen. Hörte ihr verlegenes Lachen als er ihr schwor, dass niemals eine andere ihren Platz einnehmen würde. Wie hätten sie ahnen können, was der Herbst brachte.
Der Herbst begann zeitig in diesem Jahr. Das Korn war schon früh reif und die Tage wurden bis zum letzten Tageslicht ausgenutzt um die Felder abzuernten und die Ähren zur Tenne zu bringen. Erntedank war nicht weit, doch Feierstimmung wollte keine so recht aufkommen. Gerüchte machten die Runde dass die Grippe umging, viel zu früh und viel zu heftig. Sogar erste Tote habe es gegeben und wenn es im Herbst schon so viele traf, was sollte erst im Winter werden? Kaufleute verließen nur zögerlich den Ort um nach Andorhal oder Stratholme aufzubrechen und umgekehrt kamen auch weniger von ihnen nach Darroheim. Zwar gab es Reisende, die den Ort durchquerten, doch waren es eher Menschen, die Lordaeron verlassen und im Süden einen Neuanfang wagen wollten. Eine bedrückende Stimmung hatte das Land gefasst doch keiner konnte sagen, was wirklich geschah. Königliche Herolde reisten durch das Land und riefen die Bevölkerung auf, in ihren Häusern zu bleiben.
Dann kamen die ersten Schreckensnachrichten aus Andorhal. Der Tod ginge um in der Stadt, wörtlich. Berichte häuften sich über Menschen, die mit Fieber und Husten auf der Straße leblos zusammenbrachen und sich bald schon als wandelnde Tote erneut erhoben um sich auf jene zu stürzen, die ihnen zu helfen versuchten. Bald schon kamen ähnliche Berichte aus den umliegenden Orten der großen Stadt. Immer häufiger sah man Soldaten auf den Straßen in voller Rüstung marschieren. Erinnerungen an den letzten großen Krieg kamen wieder hoch und bestärken das ungute Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.
Seine Finger schlossen sich fest um den Becher und sein Blick verlor sich im Zucken der Flammen.
An jenem Tag war der Himmel strahlend blau wie Lordaerons Wappen gewesen. Zusammen mit einigen anderen hatte Angus fast die gesamte Woche auf den Feldern verbracht und in Zelten am Feldrain übernachtet um das gute Wetter so lang wie möglich für die Ernte nutzen zu können. Essen und Trinken brachten die Frauen und Kinder aus dem Dorf und wann immer sie konnte, war sie auch dabei gewesen. Doch nicht an diesem Tag. An diesem Tag stand die Sonne noch hoch am Himmel während sie dem letzten Getreidekarren folgten und einen Trupp Soldaten passierten, welche am Wegrand lagerten. Als jene die Darroheimer sahen, standen einige von ihnen auf und blockierten den Weg, rieten ihnen ab ins Dorf zurückzukehren. Unverständnis kam auf und je mehr die Soldaten versuchten, die Leute zu beschwichtigen, umso mehr wandelte sich das Unverständnis in Angst und schließlich in Wut. Die Soldaten erzählten, dass Andorhal schon vor Wochen von Untoten überrannt worden war. Ganze Dörfer waren infiziert und die Bevölkerung ausgelöscht und es auch Berichte aus der Nähe von Darroheim gab. Als schließlich auch noch die Rede davon war, dass einige Menschen im Dorf überraschend krank geworden waren, gab es kein Halten mehr.
„Du wirst sie nicht wiedersehen.“
Die Angst hatte ihn gepackt und ließ sein Herz schneller rasen. Was wenn sie auch krank geworden war? Er musste heim, um jeden Preis! Die Soldaten versuchten die Bauern vom Weg abzudrängen und redeten weiter auf sie ein, doch Angus war taub für ihre Worte. Er warf sich gegen einen der Gerüsteten, schlug blind um sich und rannte quer über die die Stoppelreihen der abgeernteten Felder. Die Warnrufe der Soldaten hörte er nicht. Mit zittrigen Beinen kam er in Darroheim an, doch das Bild, das sich ihm bot, übertraf alle Befürchtungen. Auch hier waren Soldaten, wirkten angespannt und nervös, die Waffen gezogen in den Händen und zum Angriff bereit. Die Fensterläden der Häuser waren größtenteils verschlossen, ebenso die Türen. Nur hier und da war eine offen, doch erst beim zweiten Blick erkannte er, dass diese eingetreten waren und schief in den Angeln hingen. Soldaten gingen in den Häusern ein und aus, hier und da mit roten Flecken auf Rüstung und Wappenrock, andere hockten schweigend auf Treppenabsätzen und starrten stumpf vor sich hin. Eine kleine Gruppe stand direkt am Brunnen des Marktplatzes in einem Halbkreis, die Köpfe gesenkt und die Gesichter zueinander gewandt. Etwas war zwischen ihren Füßen und Angus reckte den Kopf um zu sehen, was es war. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz als er eine der Wäscherinnen erkannte, welche mit verdrehten Gliedmaßen zwischen den Stiefeln der Männer lag, eindeutig nicht mehr unter den Lebenden weilend. Halb stolpernd, halb stürzend wich er zurück. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt und wer weiß was sie tun würden, wenn sie es taten. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu und nur die Hoffnung, dass die Höfe außerhalb des Dorfes noch verschont waren, ließ ihn weitergehen.
Die Hütte sah nicht anders aus als sonst und doch wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Keine gackerten Hühner, das Gatter für den Schafstall stand offen, von den Tieren keine Spur. Der Hund war weder zu sehen noch zu hören. Die Stille war gespenstig. Angus nahm eine Schaufel, die neben der Tür stand und legte zögernd die Hand gegen die nur angelehnte Tür, die mit einem dumpfen Knarzen nachgab. Drinnen war es dunkel und doch nicht dunkel genug, als dass er es nicht hätte sehen können. Ein süßlicher Geruch schlug ihm entgegen und das vertraute Geräusch von aufgeschreckten Fliegen erfüllte die Luft. Die Stühle lagen umgekippt da, einer war zerbrochen. Das Geschirr lag teilweise in Scherben im Raum verstreut. Dort, im Gang zur Küche, lag reglos seine Mutter, den Blick starr zur Decke gerichtet. Neben ihr, mit dem Gesicht zum Boden, sein Vater, den Arm noch schützend über seiner Frau. Fliegen ließen sich auf ihre Leiber nieder. Er spürte wie Tränen in ihm aufstiegen als ein leises Wimmern neben ihm ihn herumfahren ließ.
Der Becher knirschte leise und unheilvoll während seine Hände ihn fester drückten.
Dort, in der dunkelsten Ecke des Raumes, hockte sie. Die Arme waren um die Knie geschlungen während sie vor und zurück wippte. Das Haar hing ihr strähnig ins Gesicht, die Finger ihrer Hände waren in einander verkrampft, so dass die Knöchel bizarr weiß wirkten, während der Rest mit dunklem Wasser bedeckt zu sein schien. Sein Herz setzte einen Schlag aus als er sie so sah. Unfähig ein Wort herauszubringen trat er vorsichtig einen Schritt näher. Ihr Kopf ruckte hoch und gerötete Augen mit einem Blick bar jeder Hoffnung starrten ihn an. Tränen hatten helle Spuren im verschmutzten Gesicht hinterlassen. Zunächst schien sie ihn nicht zu erkennen doch dann formten ihre zitternden Lippen stumm seinen Namen. Flehend sah sie ihn und ihre Finger lösten sich von einander, streckten sich ihm entgegen. Gerade als Angus etwas sagen wollte, beutelte ein Hustenkrampf ihren Körper und erkannte, wie erschreckend ausgemergelt ihre Gestalt war. Angus starrte sie ungläubig an. Es konnte, ja durfte nicht sein! Nicht sie! Kraftlos sank er vor ihr auf die Knie, während unsichtbare Hände ihm den Hals zudrückten und jegliches Wort im Keim erstickten. Er streckte eine zitternde Hand nach ihr aus, doch noch ehe er sie berühren konnte schlug sie nach ihm, die Finger krallenförmig verkrampft und ein schriller Schrei aus ihrem Mund ließ das Blut in seinen Adern gefrieren.
Mit einem Knirschen gab der Becher nach und zerbrach in seinen Händen, doch er merkte es nicht.
Ihre Schreie hörte er auch dann noch, als ihr Körper längst reglos in einer Lache ihres eigenen Blutes lag. Es waren Schreie aus Hass, Schreie aus Schmerz, Schreie aus Wut und Schreie aus Hoffnungslosigkeit. Noch lange kniete er in ihrem Blut, in seinen Händen noch immer die Schaufel haltend und unfähig sich zu bewegen während sein ganzer Körper vor Anspannung verkrampfte und zitterte. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, die grünen Augen weit geöffnet doch ihr Blick gebrochen, tot. Es dauerte Stunden bis er registrierte, was geschehen war, was er getan hatte und die Angst stieg auf, dass sie vielleicht einfach nur Panik gehabt hatte, dass sie am Leben gewesen war, dass sie gespürt hatte wie er ihr den Schädel einschlug während sie mit jedem Schlag lauter schrie, bis sie sich schließlich nicht mehr regte.
Er wusste nicht mehr wie lange er dort ausgeharrt hatte, ehe er in der Lage gewesen war, einen ersten klaren Gedanken zu fassen. Er wusste nur noch dass das Blau des Himmels verschwunden und einem bleiernen Grau gewichen war, als er neben drei Gräbern stand und einen Eid schwor, den nur der kalte Wind Lordaerons bezeugte, der das Ende des Herbstes einläutete.
„Du wirst sie nicht wiedersehen.“
Anfangs hatte er versucht, den Gedanken zu verleugnen, doch als er die letzte Erde auf ihr Grab schaufelte, war die Gewissheit endgültig. Nicht nur ihr Leben endete hier, sondern auch seines und so sehr er sich auch wünschte, ihr zu folgen, seine Zeit schien noch nicht gekommen. Er klammerte sich an einen Versprechen, das er vor einigen Monaten gegeben hatte und es erfüllen würde, koste es, was es wolle. Das Wie wurde ihm bewusst als er feststellte, dass seine Beine ihn zu den Lagern der Soldaten zurückgeführt hatten. Er schloss sich als Rekrut dem Trupp an und folgte ihnen im Kampf gegen die untote Geißel. Der einzige Weg, die Seuche zu stoppen, waren Schwert und Feuer.
Das Feuer war fast erloschen und die Kühle ließ ihn frösteln. Seine Hände waren leer, der Becher lag in Scherben zwischen seinen Füßen. Wieder hörte er die flüsternde Stimme in seinem Kopf, ihren spöttischen Klang.
„Du wirst sie nicht wiedersehen. Sie wartet umsonst auf dich.“
Angus erhob sich langsam und blickte zu den Sternen empor. Ein jeder von ihnen stand für eine gestorbene Seele und er lächelte leicht, als er einen besonders hell funkeln sah. Die Stimme hat unrecht. Er hatte sie wiedergesehen und so sehr es auch geschmerzt hatte, sie wieder zu verlieren, es hatte ihm doch in einem Punkt mehr Kraft gegeben.
„Ich werde sie wiedersehen. Und sie wartet auf mich.“
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