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Qsicon Exzellent Dieser Artikel wurde am 10. August 2015 als Spotlight der Woche vorgestellt.
Längste Weg-Kopf


Kapitel 4 - 2

Noch heute erinnerte sich Angus an das Gefühl des Einschlags, als wäre ihm der Arm abgerissen worden. Das Gefühl, als der Boden unter seinen Füßen auf einmal fehlte und ein Kribbeln durch seinen Magen ging, ehe ein harter Aufschlag in seiner Seite ihm die Luft aus den Lungen presste. Es war mit nichts zu vergleichen, nicht einmal mit einem direkten Treffer eines geweihten Paladinhammers.

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ie Monstrosität hatte den Schildwall der Gruppe im wahrsten Sinne des Wortes weggefegt. Die Wucht, mit der die Kette samt Haken in die Reihe einschlug, ließ die Getroffenen ineinander krachen und riss mehrere von ihnen von den Beinen und schleuderte sie mehrere Meter weg. Der unglückliche Kamerad, der am äußersten Ende gestanden hatte, schrie zunächst noch aus Leibeskräften ehe er verstummte. Die Spitze des Hakens ragte aus seiner Brust und die Kreatur wirbelte ihn herum wie ein kleines Spielzeug an der Leine. Für zwei weitere von ihnen kam jede Hilfe zu spät. Der Einschlag hatte Schilde wie Rüstung eingedrückt und gefaltet, so dass sie sich durch Knochen und Fleisch rissen wie durch Papier.

Angus rang nach Luft während er auf dem Rücken lag und langsam nach Orientierung suchte, nicht sicher, was gerade passiert war. Neben ihm tauchte das Gesicht von Elisabeth auf, die ihn aus der Ferne dumpf anbrüllte, er solle gefälligst aufstehen. Seine Sicht war verschwommen, benebelt vom Aufprall. Alles wirkte so surreal und er war sich sicher, dass es sich um einen Alptraum handelte, dem er einfach durch Aufwachen entkommen konnte.

Ehe Angus etwas sagen konnte näherte sich erneut die Monstrosität und gab ein Geräusch von sich, das einem hämischen Lachen am nächsten kam. Gerade als es erneut die Arme hob um den nächsten Schlag zu setzen wurde es rücklings von einem Artillerieschlag getroffen. Das Geschoss durchschlug den Körper und klatschte aus den Eingeweiden heraus, ohne sichtbaren Schaden angerichtet zu haben. Schreie von der Seite zogen die Aufmerksamkeit der Kreatur auf sich.

Zwei Männer standen dort Schulter an Schulter und forderten offenbar die Monstrosität direkt heraus. Einer von ihnen im heiligen Ornat der Paladine, der andere in einer Uniform, die eher an die Marine denken ließ. Mit einem zufriedenen Lächeln wackelte die Kreatur mit dem Kopf, als würde es in Erkenntnis einer pervertierten Weisheit nicken und stapfte auf die beiden zu, noch immer den unglücklichen Kameraden von Angus' Gruppe am Haken. Elisabeth reagierte blitzschnell. Sie packte Angus' Arm um ihn auf die Beine zu zerren, als der Schmerz wie ein weißglühender Blitz durch seine Seite jagte. Er schrie auf, doch Elisabeth ließ nicht locker, zerrte weiter bis er schwankend stand.

„Auf die Beine, Krüppel! Du wirst mir hier nicht verrecken!“

Er spürte, wie heißes Blut an seiner Seite hinab rann und sein Puls mit jedem Herzschlag einem Fausthieb gleich gegen die geschundene Rüstung schlug, genau dort, wo das Metall tief eingedrückt worden war. Auf einen der nahen Geschosskrater deutend scheuchte Elisabeth die Verbliebenen der Gruppe über das Feld, um sich dort zu verstecken und aus der Schusslinie zu kommen. Sie drücken sich flach in den Dreck und warteten. Die Monstrosität hatte offenbar mehr Spaß mit ihrem neuen Spielzeug und das Interesse an ihnen verloren. Leichtes Aufatmen... und dann die Erkenntnis.

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ie lagen in einem Krater, mitten auf dem halb von der Geißel überrannten Schlachtfeld, wo sie sehr wahrscheinlich früher oder später entdeckt werden würden. Unter ihnen lag ein Gemisch aus blutgetränktem Geröll und roten Metallfetzen, die nur halb die Leichen all der Kameraden bedeckten, die durch den Einschlag ihr Leben gelassen hatten. Es lief Angus kalt den Rücken hinunter, als er merkte, dass ein Plattenstiefel, den er mit dem Fuß zur Seite schieben wollte, zu schwer war um leer zu sein und sich bewegte. Ein schmerzerfülltes Stöhnen war zu hören und mit Schrecken wurde ihm klar, dass in dem Haufen Schrott und Dreck noch immer einer der armen Hunde lebte, die hier vor kurzem noch gestanden hatten. So flach wie möglich an den Boden gedrückt schob Elisabeth Fetzen und Geröll von der Quelle des Stöhnens weg und tatsächlich kam der Kopf eines Kameraden zum Vorschein- oder das was davon übrig war, denn die linke Seite war schlicht und einfach nicht mehr vorhanden. Angus würgte, konnte sich gerade noch beherrschen. Er schloss die Augen und wandte den Kopf ab während Elisabeth dem unglücklichen Kameraden die Kehle durchschnitt und ihn von seinen Qualen erlöste. Ihr Blick huschte skeptisch zu Angus.

„Was?“, zischte sie barsch.

Er schüttelte nur den Kopf. „Nichts.“

„Soll ich ihn hier krepieren lassen wie ein Stück Vieh, statt ihm einen raschen Tod zu geben? Oder willst du ihn zusammennähen bis er aussieht wie eins von den Dingern?“

Ihr Kopfnicken in Richtung der Monstrosität war mehr als deutlich. Erneut schüttelte er den Kopf.

„Nein.“

„Dann tu verdammt nochmal was getan werden muss, Krüppel. Was dachtest du denn was es wird? Ein Spaziergang? Dass wir alle am Abend heimgehen und uns dumm und dämlich saufen in unserem Ruhm?“

Er schwieg. Wieder feuerte die Artillerie und nicht weit von ihnen schossen Splitterfontänen aus dem Boden, wo die Geschosse einschlugen. Der Boden erzitterte und ließ ihn nach Luft schnappen. Einer der Kameraden robbte zu ihm und untersuchte die seine blutende Seite, doch schüttelte er nur den Kopf.

„Lass es so. So stützt die Rüstung und stopft das Loch.“

Ein kameradschaftlicher Klaps gegen den Helm, ein leichter Klopfer auf die Schulter zur Aufmunterung. Dann der nächste Einschlag, diesmal deutlich von ihnen entfernt, Richtung Hauptfeld. Ein Blick in den dunstigen Himmel machte deutlich, dass es gegen Mittag sein musste. Bis zur Dämmerung hatten sie noch Zeit, wegzukommen. Danach wären ihre Chancen gleich Null.

Mit gedämpfter Stimme beriet sich Elisabeth mit zwei der Anderen. Aus ihrer Gestik und Mimik war deutlich, dass sie diverse Möglichkeiten durchsprachen, aber offenbar keine davon sonderlich vielversprechend war. Während sie diskutierten erhob sich langsam ein tiefes Murmeln, dumpf und erdig, nicht von dieser Welt. Das Gespräch verstummte und sie hielten inne, lauschten, während das Raunen immer schärfer wurde und näher kam, begleitet von einem Schlurfen und Schleifen.

Ein leichter Ruck ging durch den Boden. Noch einer. Dann wieder. Zunächst dachten sie noch, es wäre wieder ein Einschlag der Artillerie und sie hätten das Feuer nur nicht gehört. Dreck rieselte von den Rändern des Kraters herab. Die Nervosität war greifbar und schlug in Panik um, als sich die Toten unter ihnen zu regen begannen. Hier zuckte ein Arm, dort bewegte sich ein halbes Bein, eine aufgerissene Kehle seufzte erschöpft. Die Luft stank bestialisch nach Verwesung und schwarzer Magie, als die Gefallenen sich langsam erhoben.

Angus starrte auf den Kopf des Kameraden, dem Elisabeth die Kehle durchschnitten hatte und der ihm nun sein verbliebenes Auge zuwandte. Für einen kurzen Moment war noch Klarheit in dem Blick, dann brach ein Schleier darüber und alles menschliche war wie weggefegt. Eine verbrannte Hand hob sich zitternd aus dem Dreck und versuchte ihn zu packen. Ein kurzer Blick zu den anderen verriet, dass es ihnen nicht anders ging. Der Boden unter ihnen, gemischt aus Dreck und Blut ihrer Kameraden, begann sich zu regen. Im Liegen war kein Platz, das Schwert zu heben, geschweige denn es richtig zu führen. Kurzerhand nahm Anugs den Schild, kniff die Augen zu und warf sich mit seinem Gewicht auf den Untoten, dessen restlicher Schädel wie eine überreife Melone zerplatzte. Übelkeit verkrampfte seinen Magen und stieß bitter auf. Nur nicht übergeben, dachte er. Gib ihr nicht den Triumph dich zu übergeben. Aber sein Magen war stärker als sein Wille.

Beschämt schaute er zu Elisabeth die gerade mit einem wuchtigen Schwerthieb einen Erstandenen enthauptete und er wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden zu Boden sackte. Sie hatte seinen Moment der Schwäche nicht bemerkt, und das war auch gut so.

Das Murmeln erfüllte die Luft wie das kollektive Summen eines gewaltigen Insektenschwarms. Einer ihrer Gruppe deutete über den Rand des Kraters hinweg auf eine Gestalt in langen dunklen Roben. In den blassen Händen hielt das, was einmal ein Mensch gewesen sein mochte, einen langen schwarzen Stab, der mit zahlreichen Schädeln verschiedenster Herkunft und Größe behangen war. Sein Gesicht sah man nicht, wohl aber seine langen knöchernen Finger, die sich gerade direkt auf sie richteten. Wie auf Kommando drehten sich die Ghule und Zombies in ihrer Nähe um und rannten mit wütendem Gekreische auf den Krater zu.

Mit etwas zitterigen Beinen rappelte sich Angus hoch und nahm seinen Platz im Schildwall ein, der sich binnen weniger Augenblicke formierte. Sie formten einen Fuß tief im Krater stehend einen Kreis und warteten den Aufprall ab. Es war ein wildes Gemetzel. Einzelne Untote stürzten übereinander und versuchten den Schildwall zu überklettern und den Wall aus der Mitte heraus zu zerreißen, während die Masse der Kreaturen blindwütig gegen den dichten Ring der zerkratzten Schilde anrannte und davon abprallte. Die Schwerter der Kreuzfahrer sausten durch die Luft und schlugen sich durch die sich immer höher auftürmenden Knochenhaufen. Mechanisch, wie in Trance, erfolgte Hieb um Hieb um Hieb. Schilde ließen die Angriffe abprallen, schoben stürzende Leiber zurück und schlugen ihre Kanten nicht minder scharf durch die Skelette, während die Schwerter den Rest erledigten.

Wieder ein Schlag von oben. Angus parierte ihn mit erhobenem Schild, doch noch ehe er mit dem Schwert zurückstach sah er aus den Augenwinkeln einen gewaltigen Schatten niedergehen und begriff, dass er einer Ablenkung aufgesessen war. Ohne zu überlegen warf er sich nach links gegen Elisabeth und riss sie vom Kraterrand weg mit sich auf den Boden. Eine mannsgroße Axt fraß sich in den rotgetränkten Boden, wo sie beide gerade noch gestanden hatten. Von zwei Schwerthieben von links und rechts zugleich gefällt brach der Ghul zusammen. Kommentarlos stand Elisabeth wieder auf, packte Angus am Arm und zerrte ihn auf die Beine, schob ihn zurück in die Reihe und wandte sich ihrem nächsten Feind zu.

Er wusste nicht mehr, wie lange sie sich dort in dem Krater verteidigten. Doch erinnerte er sich daran, dass Elisabeth ihn an diesem Tag das letzte Mal „Krüppel“ genannt hatte. Niemals wieder hatte sie den Moment im Krater angesprochen oder auch nur eine Erinnerung angedeutet, aber von diesem Tag an hatten sie Seite an Seite als Einheit gestanden und wussten: Sie konnten sich aufeiander verlassen.

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ie lange sie Welle um Welle zurückschlugen - wer wusste das schon. Es schien ein endloser Strom zu sein, der gegen sie anrannte, bis sich einer der Rotgerüsteten eine Bresche durch die Ghule schlug und dem Nekromanten seine Klinge in den Leib rammte. Die Diener des Hexers hatten augenblicklich ein neues Ziel und stürzten sich kreischend auf denjenigen, der ihren Herren bedrohte, doch zu spät. Als der Nekromant tot zusammensackt, verließ einen Großteil der Untoten um sie herum ebenfalls erneut alle Lebenskraft. Die wenigen, die noch standen, wurden von den nachstürmenden Kameraden erledigt bis sie alle nach Atem ringend knöcheltief in Fäule und Knochenresten standen.

Sie schauten sich um und sahen das kaum noch bestehende Hauptheer, nur noch hier und da aus größeren Grüppchen bestehend, die sich langsam in Richtung Ortsrand bewegten. Der Großteil ihrer Armee war schlicht und einfach nicht mehr da und nahezu lückenlos von einer weiterdrängenden Masse aus Ghulen und Zombies umgeben. Hier und da waren die Reihen der Geißel mit rot Gerüsteten verstärkt, die gnadenlos auf ihre ehemaligen Kameraden einschlugen. Die kaum sichtbare Scheibe der Sonne hatte inzwischen fast die Gipfel der Bergkette erreicht und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Nacht zurückkehrte. Wenn sie Corins Kreuzung lebend verlassen wollten, dann jetzt oder nie.

Die Verschnaufpause währte nicht lange, denn die nächsten Untoten näherten sich bereits und im Gegensatz zu den Kreuzfahrern waren sie weder müde noch durstig. Laute Rufe drangen zu ihnen rüber, unmissverständliche Kommandos zum Rückzug. Keine fünfzig Schritte entfernt standen tatsächlich zwei hochgewachsene schlanke Kämpfer in roten Rüstungen, die Rücken ihnen zugewandt, elegante Bögen in den Händen, halbleere Köcher auf ihren Rücken. Elisabeth schrie ihnen entgegen und gestikulierte wild, um auf sich aufmerksam zu machen. Und tatsächlich drehten sich beide um und blickten skeptisch in ihre Richtung. Das leichte blaue Schimmern hinter ihren Helmen verriet eindeutig ihre elfische Herkunft. Erneut signalisierte Elisabeth, dass sie Hilfe brauchten, dass ihre Kräfte am Ende waren, dass sie alleine nicht mehr lange ausharren konnten, doch während hinter ihr wieder die ersten Skelette abgewehrt wurden, Schienen die Elfen davon völlig ungerührt. Schließlich wandte sich einer von den beiden wieder ab und hob eine Hand zum Signal, so dass sie es ebenfalls sehen konnten.

Bis zu jenem Tag hatte Angus immer voller Faszination die elfischen Mitglieder des Ordens betrachtet, immerhin waren sie nicht gerade oft zwischen ihren Reihen. Doch als der Elf die Hand hob und die Überlebenden ihrer Gruppe für weiter entfernte Dritte für tot erklärte und kurz darauf mit seinem Kameraden verschwand, war dies ein Schlag ins Gesicht für ihre Gruppe und zudem wahrscheinlich ihr Todesurteil. Die elfischen Pfeile hätten vielleicht dafür sorgen können, dass sie bei Beginn der Dämmerung nicht weitere drei Brüder und eine Schwester verloren hätten und eine weitere Schwester zu Krüppel geworden wäre.

Noch immer harrten sie im Krater aus, umgeben von Toten, gebadet in deren Blut. Vollkommen erschöpft lagen ein jeder, wo gerade einigermaßen Platz war. Keiner wagte es, den Helm abzunehmen und auf lindernden Regen zu hoffen war in diesen Landen illusorisch. Es herrschte eine trügerische Stille in Corins Kreuzung. Wer konnte, gönnte sich den Luxus für wenige Augenblicke die Augen zu schließen und Kraft zu schöpfen. Angus fühlte sich, als bestünde sein Körper aus massivem Stein, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen. Sein Schädel dröhnte und die Wunde in der Seite hämmerte dumpf bei jedem Herzschlag. Schweiß rann ihm über das Gesicht und in die Augen, blendete ihn immer wieder für ein paar Sekunden. Elisabeth neben ihm knirschte so laut mit den Zähnen, dass man es in der ganzen Stadt hören musste. Sie hasste Elfen. Und nun hasste sie Elfen noch mehr. Als die beiden verschwunden waren, hatte sie ihnen Flüche und Todesversprechungen hinterher geschrien, bis ihre Kehle wund war.

Keiner von ihnen traute sich etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Zu groß war die Gefahr, doch noch vereinzelte Späher auf sich aufmerksam zu machen. Hier und da hörte man ein einsames Stöhnen und Wimmern auf dem Schlachtfeld. Sie waren definitiv nicht die letzten Lebenden. Wie viele lagen wohl noch da draußen? Wie viele waren an diesem Tag gefallen? War Shukov eine von ihnen? Die Gedanken begannen zu wirbeln und zu strudeln, bis ein gurgelndes Geräusch den Fokus wieder auf das Hier und Jetzt brachte. Sie lauschten angestrengt. Dumpfes Patschen, ein leises Klacken, schmerzhaftes Stöhnen gefolgt von einem unverständlichen flehenden Laut, dann ein Schmatzen und Gurgeln, ein dumpfer Schlag. Keiner von ihnen regte sich auch nur noch einen Millimeter. Das Patschen kam näher, nun auch ein zweites von der anderen Seite, dann noch eines und noch eines. Langsam erhob sich eine seltsame Unruhe über das Schlachtfeld. Hier und dort wurde das Wimmern lauter, Schatten begannen, sich zu regen, versuchten davon zu kriechen.

„Sie töten unsere Verwundeten“, flüsterte einer, der nah genug am Rand des Kraters lag, um darüber hinweg sehen zu können. Wie ein kleiner Heuschreckenschwarm huschten Ghule und Zombies nahezu ungesehen über das Schlachtfeld, von roter Rüstung zu roter Rüstung. War einer nicht tot, dann beugten sie sich kurz über den Unglücklichen, zerrten den Kopf hoch, rissen ihm mit Klauen und Zähnen die Kehle aus und ließen die Leiche wieder zu Boden fallen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch zu ihnen gelangen würden.

Ob sie darauf hoffen konnten, übersehen zu werden, diese Frage stellte sich keinem mehr. Die einzige Entscheidung war nun, zu warten, bis die Ghule heran waren oder die noch geringe Distanz auszunutzen.

„Gebt mir meinen Schild.“ Es war die Schwester, deren rechter Oberarm in einem mit mittlerweile blutigen Lumpen umwickelten Stumpf endete. „Ich lenke sie ab.“

„Vergiss es“, zischte einer der Brüder zurück. „Wir gehen hier zusammen raus.“

„Wenn ich sie ablenke habt ihr eine Chance. So hab ich noch einen Nutzen.“

Die Bitterkeit ihrer Worte war nicht überhörbar. Wozu war ein Schwertkämpfer ohne Schwertarm auch noch nütze? Mit dem verbliebenen Arm tastete sie nach einem der Schilde. Als ihre Finger die Halteriemen berührten ertönte wenige Schritte von ihnen entfernt ein wildes Kreischen, das von einem ganzen Chor schriller Stimmen erwidert wurde. Sie waren entdeckt! Schlagartig waren Müdigkeit und Erschöpfung verflogen, wer nicht sofort auf den Beinen war, der wurde von den anderen gepackt und hochgezerrt, die Verletzten gestützt, gezogen, geschoben, Ihr Entdecker hetzte ihnen hinterher, hieb mit seinen scharfen Krallen nach ihren Beinen. Ein triumphaler Schrei gepaart mit einem Schmerzensschrei machte klar, dass einer der Angriffe Erfolg hatte. Elisabeth stürzte zu Boden, ehe sie von den anderen gepackt werden konnte. Angus blieb augenblicklich stehen, drehte sich zu ihr und wollte sie am Arm packen um ihr hochhelfen, doch sie schlug die angebotene Hilfe mit der Hand weg.

„Beweg dich, du verdammter Idiot!“ brüllte sie ihn an während ein gezielter Schildhieb den Verfolger ausschaltete.

„Kannst du laufen?“ fragte er sie skeptisch während er zögernd einen Fuß vor den anderen setzte und sich langsam von ihr wegbewegte, den Blick weiter auf sie gerichtet.

Zähneknirschend antwortete sie ein „Ja“ und kam wankend wieder auf die Beine und hinkte eine Schritte.

„Dann lauf!“

Wie sehr er sie auch in all den Monaten für ihre unnachgiebige Sturheit verflucht hatte - gerade dieser Sturheit verdankte sie ihr Überleben, wie so viele andere auch. Als sie die Stellungen der Artillerie passierten, klafften rings um die Maschinen unzählige schwarze Löcher in der aufgewühlten Erde, wo sich die Untoten an die Oberfläche gegraben hatten. Hier und da sah man noch scharlachrote Leichen halb aus den Löchern ragen, in die sie gezogen worden waren. Der Feind war von Anfang an hinter ihnen gewesen.

Der Weg zurück nach Tyrs Hand schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder trafen sie auf einzelne Überlebende oder auch kleine Gruppen. Sie waren müde, abgekämpft, erschöpft. Wasser hatte schon lange keiner mehr bei sich. Wer gehen konnte, ging, wer zusammenbrach wurde irgendwie gestützt oder getragen. Keiner wurde zurückgelassen.

Die Bilanz der Schlacht von Corins Kreuzung war ein massiver Schlag gegen die Scharlachroten. Die Erkenntnis war bitter und machte vorallem klar, dass der Ausgang zukünftiger Schlachten keine reine Frage der Massen werden würde sondern vorallem vom taktischen Geschick beider Seiten abhingen.

Angus' Blick schweifte wieder zu Skarssen der gerade mit erhobenem Kopf an der Seite seiner Brüder und Schwestern stand. Damals hatte ein Mann mit dunklen Haaren am Wegesrand nach Tyrs Hand gelegen, ohne Waffen, das Ornat des Paladins zerfetzt, mit zwei leeren Pistolengürteln um den Hüften. Mit einem abgrissenen Stück Stoff in der Hand hatte er gewunken um auf sich aufmerksam zu machen. Danach hatte er ihn nie wieder gesehen und für tot gehalten, bis er vor gut einem Jahr in Sturmwind auftauchte. Die Rüstung des Paladins trug er offenbar schon lange nicht mehr, ebenso wenig Hammer und Langschwert. Nun stand er hier, in der Rüstung der Gardisten, und bot erhobenen Hauptes seinem Gegner Paroli. Amlodi Skarssen war nach langer Zeit endlich von seinem Schlachtfeld zurückgekehrt.

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